Leseprobe - Kapitel 9: Die vier Musketiere
Das Willstätter Handball-Spektakel lockte illustre Figuren wie Hrvoje Horat, Vlado Sola und Bob Hanning ins Hanauerland
Der 6. März 2002 gehörte nicht zu den aufregenden Tagen auf dieser Welt. Die Nachrichtenlage an diesem Mittwoch war dürftig bis dünn. Und der graue Schleier des Winters hing noch über dem aufkeimenden Vorfrühling der Ortenau, die wegen ihrer warmen Temperaturen auch die Toskana Deutschlands genannt wird. Doch rund um Offenburg lag an diesem Mittwoch etwas in der Luft. Das spürten die Handballer der SG Willstätt/Schutterwald, die in der Handball-Bundesliga seit anderthalb Jahren das Erbe des TuS Hofweier und des TuS Schutterwald verwalteten, schon beim Anschwitzen am Vormittag in der Mörburghalle.
Alle standen unter Strom. Viel mehr als sonst vor einem Spiel. Es war eine Mischung aus prickelnder Vorfreude, Entschlossenheit und Nervosität.
Am Abend wartete das Duell gegen den THW Kiel. Das Spiel des Jahres gegen den FC Bayern des deutschen Handballs, der auch in dieser Saison die Meisterschaft im Auge hatte. Und es war klar: Über 5000 Zuschauer würden die Offenburger Ortenauhalle in ihren Grundfesten beben lassen, falls sie auch nur den Hauch einer Chance für ihre abstiegsbedrohte SG W/S wittern würden.
Dem leichten Vormittagstraining schloss sich ein gemeinsames Mittagessen im Schutterwälder „Fortuna“ an. „In meiner gehobenen Kantine“, wie Trainer Bob Hanning das Ristorante von Roberto Torchiaro zu nennen pflegte. Er wollte seinen italienischen Amico damit foppen und gleichzeitig seine häufigen Auftritte dort rechtfertigen.
Torchiaro gab gerne den profunden und meinungsstarken Kenner des italienischen Fußballs, schmückte sich aber genauso gerne mit der lokalen Handballprominenz.
An diesem Mittwoch kurz vor zwölf Uhr war er in Erwartung der Mannschaft viel zu sehr in der Küche beschäftigt, um zu bemerken, wie sich die Lage in dem kleinen Nebenzimmer zuspitzte, das direkt am Eingang liegt.
Dort standen sich zwei Männer gegenüber, die gegensätzlicher kaum sein konnten: der nur 1,68 Meter große Bob Hanning und der 1,98 Meter lange 110-Kilo-Riese Vlado Sola.
Sola, ein Kroate, war der Torhüter und als Vizeweltmeister von 1995 auch der Star der SG Willstätt/Schutterwald. Ein charismatischer Bud-Spencer-Verschnitt mit Unterhaltungswert und dem Schuss Arroganz, den man Siegertypen nachsagt. Daraus machte er keinen Hehl. Als Manager Martin Wiedemann ein paar Wochen zuvor beschlossen hatte, die Spieler in abgedunkelter Halle einzeln mit Spotlight und Hymne einlaufen zu lassen, um die Stimmung unter den Zuschauern anzuheizen, sollte die Reihenfolge, in der das geschah, durch die Rückennummern bestimmt werden. Was bedeutet hätte: Sola mit der Nummer 1 vorneweg. „Nix da“, wiegelte er vor versammelter Mannschaft ab, „bin ich Star von Mannschaft! Komme ich als Letzter – dann Halle tobt!“
Im Nebenzimmer des „Fortuna“ war das bundesweit beachtete Trainertalent Hanning nun dabei, diesem Macho im Tor, der nur ein halbes Jahr jünger war als er, eine Majestätsbeleidigung zuzufügen.
„Vlado, ich sach dir das jetzt, wie es is“, kam der in Essen geborene Sohn einer Psychologin mit einem Nervenarzt als Stiefvater auf den Punkt: „Du bist heute Abend raus.“
Sola musterte ihn ungläubig, während seine Pulsadern leise zu vibrieren begannen.
Das Problem, das dahintersteckte, war bekannt und ein stückweit hausgemacht: Die SG W/S beschäftigte drei Nicht-EU-Ausländer, von denen aber laut Statuten nur zwei pro Spiel eingesetzt werden durften. Der Slowake Martin Valo war im Angriff gesetzt. Und der Serbe Branko Kokir stand nach langer Verletzungspause wegen eines Ermüdungsbruches im Fuß wieder zur Verfügung. Genauso wie Sola, der gerade einen Riss der Patellasehne im Knie auskuriert hatte.
„Toto Kantimm ist krank, der hat Magen-Darm“, konfrontierte Hanning seinen Torhüter mit der neuesten Entwicklung. „Deshalb brauche ich Branko in der Abwehr. Das heißt, du bist raus. Das ist eine Entscheidung, die du nachvollziehbar nicht verstehen kannst, die du aber akzeptieren musst!“
Ende der Durchsage.
Sola, der ein Vulkan sein konnte, entfuhr ein lautes „Pitschko madre“, ein vulgäres Schimpfwort vom Balkan. Dann verließ er ohne weiteren Kommentar das „Fortuna“ und klatschte die Sporttasche in den Kofferraum seines dunkelblauen BWM mit dem Offenburger Kennzeichen „OG – SO 11“. Das passte zu seinem Selbstverständnis: Sola, die Nummer 1 unter allen mit der Nummer 1.
In diesem Moment parkte Daniel Kempf vor dem Ristorante. Verdutzt schaute er seinem Keeper hinterher, wie der wütend davonbrauste: „Vlado war arg angepisst“, sagt der Linksaußen, der in diesem Moment nicht die leiseste Ahnung hatte, dass er selbst noch eine ganz besondere Rolle an diesem Tag spielen würde.