Leseprobe - Kapitel 8: Der Sprinter auf der Matte
Der Ringer Martin Knosp aus Urloffen schulterte alle, zuweilen sogar das Schicksal. Nur Dave Schultz kam ihm in die Quere.
Ohrenbetäubender Lärm schlägt Martin Knosp entgegen, als er am 10. August 1984 um 17:55 Uhr den Innenraum des Convention Centers von Anaheim in Kalifornien betritt. Auf der zehn mal zehn Meter großen Matte, der er sich entschlossenen Schrittes nähert, hat der 24-jährige Ringer aus dem südbadischen Dorf Urloffen nun exakt sechs Minuten Zeit, den größten Traum zu verwirklichen, den ein Sportler haben kann.
Den Traum vom olympischen Gold.
Knosp ist erst 24. Andererseits auch ein alter Hase. Er hat alles erlebt, was im Ringkampf passieren kann. Sein Körper fühlt sich viel älter als die Jahre, die er auf dem Buckel hat. Nur eins fehlt dem weltbesten Weltergewichtskämpfer der frühen 1980er-Jahre noch: diese olympische Goldmedaille im Freistil in der Klasse bis 74 Kilogramm.
Knosp ist total fokussiert. Zu allem bereit. Etwaige Bedenken blendet er aus. Und auf der Matte, die sein Lebensmittelpunkt ist, kennt er nur eine Richtung – den Vorwärtsgang.
Aber in dieser Arena in Anaheim vor den Toren der Olympiastadt Los Angeles, da spürt Knosp unterschwellig, dass er an seine Grenzen stoßen könnte.
5000 Zuschauer veranstalten ein Höllenspektakel. Das nahe gelegene Hollywood lässt grüßen. Aufgepeitscht ist die Atmosphäre. Und für die Menschen auf den Rängen steht der Sieger fest, lange bevor der Kampf begonnen hat: Dave Schultz aus Palo Alto – nur 500 Meilen nördlich von L.A. gelegen.
Der Heimvorteil ist mit den Händen greifbar, als Martin Knosp seinen Kampfanzug zurechtzurrt und seinem Gegner in die Augen schaut. Dave Schultz ist klein, bärtig und giftig. Sein leicht vornübergebeugter Gang gleicht dem eines Affen.
Knosp weiß: Das ist der härteste Brocken, der ihm je gegenüberstand. Das Gegenteil eines feinen, eleganten Ringers. Schultz ist ein Raubein, ein Draufgänger – und dazu mit allen Wassern gewaschen.
Der Pfiff des Ringrichters reißt den Urloffener jäh aus allen Gedanken. Jetzt oder nie.
Es geht sofort zur Sache. Zwei Körper kämpfen mit geballter Kraft und mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres um jeden Millimeter, der helfen könnte, den entscheidenden Griff anzusetzen, der zu einer Punktewertung führt oder im Idealfall dazu, den Gegner auf die Schultern zu legen. Was einem K.o. beim Boxen gleichkommt.
Die erste Minute ist um. Noch immer steht es 0:0. Knosp versucht, ständig zu attackieren, aber Schultz weiß auf alles eine Antwort, ist pfeilschnell, kantig und sehr robust.
Sie kämpfen Kopf an Kopf, und die Beine sollen die des Kontrahenten aushebeln. Da passiert es: Von schräg unten schießt der Schädel von Dave Schultz nach vorne, und sein Hinterkopf trifft mit voller Wucht die linke Augenbraue seines Kontrahenten.
Knosp spürt den Schmerz. Reflexartig fasst er sich an die getroffene Stelle. Erst fühlt er das Blut. Dann sieht er es. Dunkelrot auf seinen Fingern.
„Ohhhh Scheiße“, schießt es ihm durch den Kopf, während er zu Boden geht und eine Verletzungspause in Anspruch nimmt. Verschwommen registriert Knosp, wie sich Bundestrainer Heinz Ostermann und der Physiotherapeut über ihn beugen und beginnen, sein Auge zu kühlen.