Leseprobe - Kapitel 7: Zimber, Fons, Emma und Bott
Dank Edgar Heuberger, Alfons Quarti, Armin Emrich und Martin Heuberger mischte der TuS Schutterwald die deutsche Handball-Elite auf
Auf der Autobahn A5 kurz vor der Ausfahrt Bühl schien am 25. März 1992 mit einem Schlag schon alles vorbei zu sein. Zumindest für die 53 Insassen von Wagen „6“. „Acht Kilometer Stau Richtung Karlsruhe“, verkündete der Radiosprecher in den 18-Uhr-Nachrichten.
In diesem Moment entschied Busfahrer Peter Schrempp, volles Risiko zu gehen. Er nahm den Weg über die Dörfer. Seine Deadline: 20 Uhr, Karlsruhe, Europahalle.
In Wagen „6“ saß auch der Journalist Manfred Pagel aus Haslach. Sein Job war es, eine Reportage zu schreiben über die Pilgerfahrt der Fangemeinde des TuS Schutterwald, die unterwegs war zum Spiel der Spiele dieses Handballvereins aus dem 7000-Einwohnerort bei Offenburg.
In der Saison 1991/92 war die Bundesliga vorübergehend zweigeteilt, in eine Nord- und eine Südstaffel, damit die Vereine aus dem Osten integriert werden konnten, die nach der Wende hinzugekommen waren. Um den deutschen Meister zu ermitteln und die Spannung zu erhöhen, gab es nach Hin- und Rückrunde die sogenannten Playoffs für die besten vier Teams beider Staffeln.
Das war eine K.o.-Runde mit dem Modus „Best of 3“: Wer zuerst zwei Spiele gewonnen hatte, erreicht die nächste Runde. Dabei spielte die Höhe des Sieges keine Rolle. Jedes Spiel musste also entschieden werden, notfalls per Siebenmeterschießen.
Gemäß der Setzliste traf der TuS Schutterwald als Vierter der Südstaffel im Viertelfinale auf den Ersten der Nordstaffel. Das war TuSEM Essen – zu diesem Zeitpunkt dreifacher Deutscher Meister sowie Europacupsieger der Landesmeister und EHF-Cup-Gewinner.
„David gegen Goliath“ war der Standard unter den Vergleichen für dieses Duell zwischen Provinz und Großstadt, das seinen zusätzlichen Reiz daraus bezog, dass Peter Quarti, das große Schutterwälder Talent, fünf Jahre zuvor nach Essen gewechselt und dort zum Nationalspieler gereift war.
So weit, so gut. Doch was dann passiert war, hatte alles Vorstellbare gesprengt. Der TuS Schutterwald hatte das erste Spiel, das laut Reglement beim Besserplatzierten, also in Essen stattfand, mit 26:23 gewonnen. Das war eine Sensation, über die Handball-Deutschland sprach.
Plötzlich stand für den kleinen TuS aus Schutterwald, der in der Ortenau noch immer im Schatten des großen, aber drei Jahre zuvor in die Insolvenz gegangenen TuS Hofweier stand, die Tür zum Halbfinale der deutschen Meisterschaft offen. Zumal TuSEM Essen kriselte und wichtige Spieler verletzt waren.
Ein Heimsieg im zweiten Spiel, irgendwie, mit einem mickrigen Tor Unterschied – und Schutterwald hätte das Handballwunder perfekt gemacht.
Die Crux: Wegen der Frühjahrsmesse ORFA war in Offenburg für dieses Topevent, das so unvorhergesehen kam wie ein Erdbeben, keine geeignete Halle zu bekommen. Schutterwalds Manager Edgar Heuberger machte es wie Busfahrer Schrempp – er ging aufs Ganze. Im 75 Kilometer entfernten Karlsruhe war tatsächlich an diesem Mittwochabend, an dem das zweite Playoffspiel angesetzt war, die große Europahalle frei.
Knapp 6000 Karten waren im Vorverkauf weggegangen wie warme Semmeln. Eine Offenburger Tankstelle hatte innerhalb von zwei Stunden 70 Stück verkauft.
Deshalb waren sage und schreibe 23 Busse unterwegs. Zudem wälzte sich eine Blechlawine aus Pkws Richtung Karlsruhe. Jeder Fahrer war seines Glückes Schmied. Denen, die sich auf der Autobahn durchgekämpft hatten, wurde die Linksabbieger-Ampel vor der Halle zum Verhängnis, an der sich ein gewaltiger Rückstau gebildet hatte, weil die Polizei darauf verzichtete, den Verkehr individuell zu regeln. Die Beamten hatten die Invasion aus Schutterwald nicht auf dem Schirm.
Wagen „6“ irrte auf der Landstraße Richtung Karlsruhe. „Wir sind durch Dörfer gefahren, von deren Existenz ich bis dato nichts wusste“, tippte der Journalist Pagel in seinen Laptop. Im Bus war Verdis „Triumphmarsch“ längst verklungen, den die eingefleischtesten unter den Fans auf der Rückbank zu Beginn der Fahrt angestimmt hatten.
Spätestens als der Busfahrer in einem stockdunklen Karlsruher Industriegebiet wenden musste, ging den TuS-Anhängern die Düse: Reicht’s noch bis zum Anpfiff? Anderen Bussen ging’s nicht besser. Über Funk meldete sich ein Fahrer und gestand, er wisse nicht mehr, wo er sei.
Dass Wagen „6“ fünf Minuten vor dem Anpfiff um 20 Uhr an der Europahalle eintraf, war nur einem barmherzigen Renault-Fahrer zu verdanken, der den Bus auf Schleichwegen durch Tempo-30-Zonen zum heiß ersehnten Ziel gelotst hatte. Gerhard Schrempp fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, als er den Motor abstellte. Und seine Fahrgäste strömten in einen riesigen Kessel, der sich erst auf den letzten Drücker füllte.