Leseprobe - Kapitel 6: „Geht doch, Schmitt!“
Der Karlsruher SC drang mit Rainer Schütterle, Euro-Eddy und dem wilden Winnie bis ins Halbfinale des UEFA-Cups vor.
Draußen ist es noch dunkel, als Edgar Schmitt am 28. Oktober 1993 seine Wohnung in Dudeldorf verlässt und die Sporttasche im Kofferraum seines Seat Toledo Turbo verstaut. Es ist kurz nach 7 Uhr an diesem Donnerstag. Die Herbstnacht in der Eifel war klar und kalt mit Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Wie üblich, nimmt Schmitt die A62 Richtung Süden. Er will nach Karlsruhe zum Training. Seit vier Monaten spielt er dort für den KSC. Sie haben ihn geholt wegen seines Torriechers, als Knipser, als Mann für alle Fälle, der ein Spiel kippen kann.
Auf dem Platz ist er im Wildpark schnell angekommen. Edgar Schmitt liefert die bestellten Tore. Privat wohnt er noch im Hotel. Nur ab und zu übernachtet er daheim in Dudeldorf, wo seine Frau lebt.
Er kennt die Strecke wie im Schlaf. Auch die langgezogene Kurve bei Freisen im Saarland. Wenn die kommt, dann weiß Schmitt, dass er ziemlich genau 100 Kilometer hinter sich hat.
Es ist kaum Verkehr an diesem Morgen. Die Tachonadel steht bei 170, als er, wie später ermittelt wird, um 7:50 Uhr in diese Kurve biegt. Was er schon oft mit dieser Geschwindigkeit getan hat.
Doch dann erschrickt er jäh. Vor ihm ist etwas passiert. „Eine Amerikanerin war rechts in den Graben gerutscht“, erinnert er sich, „dahinter stand ein Polizeifahrzeug. Sie haben den Unfall aufgenommen.“
Schmitt geht vom Gas, die Straße ist leicht abschüssig. Als er anbremst, bricht sein Wagen aus. Was er nicht bemerkt hat: Die Fahrbahn ist glatt – vom Morgentau.
Dann dreht sich nur noch alles um ihn herum. Es quietscht, schleift und kracht. Der Seat Toledo prallt direkt in den Hang und überschlägt sich. Einmal, zweimal, vielleicht auch dreimal.
Die letzte Umdrehung kriegt Schmitt wieder mit. Denn der Wagen kommt auf den Rädern zum Stehen.
Dann ist Stille.
Er sortiert sich. Tastet sich vorsichtig ab. Ein Körperteil nach dem anderen. Keine Schmerzen. Nur ein kleiner Schnitt am Ohr. Sonst nichts. Wirklich nichts.
Unglaublich. Unfassbar.
„Wenn ich gestorben wäre, hätte ich es gar nicht mitgekriegt“, sagt er später über diesen Moment, der für ihn ein zweites Leben bedeutet.
Danach fällt sein Blick auf den Beifahrersitz. Dort sieht er das Buch von John le Carré. Den Spionageroman, den er gerade liest. Der Einband ist zerfetzt. Ganz im Gegensatz zu seinem Körper. Grotesk. Was für einen Schutzengel muss er gehabt haben. Noch begreift er das gar nicht. „Schade, das schöne Buch ...“, hört sich Edgar Schmitt sagen.
Dann steigt er aus.
Einer der Polizisten starrt ihn mit aufgerissenen Augen an und sagt: „Mann, Sie sind über unseren Streifenwagen geflogen!!!“
Schmitt schaut entgeistert drein und antwortet: „Das ist doch physikalisch gar nicht möglich!“
Der Beamte erkennt ihn und gibt per Funk durch, welch prominentes Unfallopfer sie da gerade antreffen. Aber er behandelt den Vorfall alles andere als vertraulich. Noch im Laufe des gleichen Tages steckt er der „Bild“-Zeitung in Frankfurt die Story. Und die Schlagzeile am nächsten Morgen hat sich gewaschen: „Fußballstar fliegt übers Martinshorn!“
Schmitt hält das immer noch für völlig unmöglich. „Der wollte die Geschichte nur verkaufen. Doch ich hab’ später rausgefunden, dass er zuerst ausgeplaudert und dann nach dem Honorar gefragt hat. Deshalb ist er leer ausgegangen.“
Damit nicht genug. Noch an der Unfallstelle sagt der Beamte: „Ich glaub’, ich hab’ jetzt einen Schock. Ich muss ins Krankenhaus.“
Schmitt denkt nur: „Der Einzige, der hier einen Schock haben müsste, der bin ich!“
Tatsächlich lässt sich der Polizist mit dem Rettungswagen abtransportieren, der wegen Schmitt gekommen ist. Was beträchtliche Folgen hat: Denn in diesem Moment ist für den KSC-Stürmer aus einem Ausrutscher ohne Gegnereinwirkung ein Unfall mit Körperverletzung geworden. Schmitt bekommt später einen Strafbefehl über 48.000 Mark, den seine Anwälte noch auf 5000 runterhandeln können.
Allmählich fasst sein Verstand wieder Fuß, und Schmitt begreift: Ich muss beim KSC Bescheid geben. Schließlich ist am Samstag ein Bundesligaspiel in Leipzig und in fünf Tagen das Rückspiel im UEFA-Cup gegen den FC Valencia.
Er wählt die Nummer von Masseur Kroth. „Du, Günter, ich muss kurz den Trainer sprechen.“
Als Winnie Schäfer am Apparat ist, sagt Schmitt nur: „Trainer, ich bin leicht in den Graben gerutscht. Ich weiß, das ist ärgerlich. Aber ich gehe nachher laufen und morgen bin ich wieder beim Training.“
Als er am nächsten Vormittag in seinem Hotelbett wach wird, kann er sich nicht mehr regen. Der ganze Körper ist eine einzige Muskelverkrampfung.
Schmitt ruft seinen Kumpel und Teamkollegen Rainer Schütterle an. „Rainer, ich kann nicht mehr gehen. Es ist brutal.“
Schütterle holt ihn ab mit seinem Porsche 911. Als sie am Stadion angekommen sind, verdreht Schmitt nur die Augen: „Rainer, du musst mir helfen, ich komm’ nicht mehr raus aus deiner Kiste.“
Winnie Schäfer hatte inzwischen schon die „Bild“ gelesen. Dementsprechend fiel die Begrüßung aus: „Schmitt, bist du bekloppt ...??? Leicht in den Graben gerutscht ...? Hast du Zeitung gelesen ...?“
Auch Schütterle schüttelte den Kopf. So eine verrückte Geschichte war ihm in seinem Fußballerleben noch nicht untergekommen. Und er hatte mit 27 Jahren schon einiges erlebt.