Leseprobe - Kapitel 4: Alles mit links

Wie Martin Wagner den 1. FC Kaiserslautern zum Pokalsieger machte und mit Oliver Schäfer auch noch Deutscher Meister wurde

Es hatte gegossen an diesem 25. Mai 1996. Den ganzen Tag über. Teilweise wie aus Kübeln. Fußball-Deutschland wartete auf die Europameisterschaft in England und war im Begriff, sich notgedrungen mit einem verregneten Pfingstwochenende zu arrangieren. Dessen Höhepunkt sollte am Samstagabend das 54. Finale um den DFB-Pokal sein.

Den neutralen Fans vor dem Fernseher ging es aber ähnlich wie denen unter den 75.800 Zuschauern im Olympiastadion, die nicht zu einem der beiden Fanlager gehörten. Emotional war dieses Endspiel „jwd“ – oder was der Berliner mit dieser Abkürzung meint: janz weit draußen. Kein FC Bayern, keine Dortmunder Borussen, die erst vor ein paar Tagen die Meisterschale gestemmt hatten.

Nein, dieses Finale war eine rein südwestdeutsche Angelegenheit: Der Karlsruher SC gegen den 1. FC Kaiserslautern. Die Rivalität dieser Traditionsvereine, für die ein DFB-Pokalfinale nicht zum Tagesgeschäft gehört, wurde noch getoppt durch die spezielle Situation, in der sich die Pfälzer befanden. Eine Woche zuvor war der 1. FC Kaiserslautern aus der Bundesliga abgestiegen.

Eine Voll-Katastrophe für die Pfalz. Die ganze Region trug Trauer und lief innerlich Amok.

Wie konnte das passieren? Trotz Weltmeister Andy Brehme, Kopfballungeheuer Olaf Marschall und trotz des brandgefährlichen Linksfußes Martin Wagner aus Offenburg, dem sie die Nummer 8 gegeben hatten, was in diesem Verein dem Bundesverdienstkreuz nahekam. Denn es war die Nummer von Fritz Walter, dem Idol des deutschen Fußballs, der Lauterer Legende, dem Kapitän der 54er-Weltmeister, die das Wunder von Bern geschafft hatten. An einem verregneten Sonntag im Juli. „Däm Fritz sei Wädder“, wie Sepp Herberger, der Chef, zu sagen pflegte.

Der Karlsruher SC bewegte sich in anderen Sphären. Platz sieben in der Bundesliga, die Herde des wilden Winnie Schäfer war gerade dabei, wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen nach dem irren Höhenflug zwei Jahre zuvor, der den KSC bis ins Halbfinale des UEFA-Cups getragen hatte. „Euro“-Eddy Schmitt war nur noch Einwechselspieler, doch in der Startelf standen so klangvolle Namen wie Thomas „Icke“ Häßler, Jens Nowotny, Manfred Bender, Michael Tarnat oder Sean „Crocodile“ Dundee.

„Der KSC war mental im Vorteil“, sagt Wagner, „aber es war Fritz-Walter-Wetter ...“

Das Spiel passte zu den bleigrauen Wolken am Berliner Nachthimmel. Es war nichts passiert bis zur 42. Minute. Dann gab es Freistoß für Kaiserslautern. Torentfernung zwanzig Meter. Halbrechte Position am Strafraum. Ideal für einen Linksfuß. Kadlec hatte den Ball schon in der Hand, Frank Greiner fragte kurz. Aber Martin Wagner sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Gib’ her, ich mach’ ihn rein!“

Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn Wagners linkes Sprunggelenk, das jetzt einen Geniestreich fabrizieren sollte, war hinüber. Seit der 4. Minute schon. Da war der Schweizer Adrian Knupp im Trikot des KSC in Wagner hineingerutscht – und dem drehte es den Knöchel um. Eigentlich hätte Feierabend sein müssen für den Offenburger. Aber es war Pokal-Finale! „Eiswasser und viel Adrenalin“, sagt Wagner, „dann kannst du den Schmerz vollkommen ausblenden.“

Hinzu kam: Er hatte eine Strategie. In der Karlsruher Mauer stand Dirk Schuster, von dem Wagner wusste, dass er ausgeprägte O-Beine hatte. Und im Tor stand Claus Reitmaier. Denn kannte er aus dem Effeff, weil er zwei Jahre zuvor noch in Kaiserslautern gespielt hatte.

„Das Erste, was ich sah“, sagt Wagner, „war, dass Reitmaier eine schlechte Sicht auf den Ball hatte. Und zweitens wusste ich aus vielen Trainingseinheiten, dass er dazu neigt, nicht mit den Händen, sondern mit den Füßen abzuwehren, wenn der Ball unverhofft auf ihn zukommt.“

Wagner wusste auch, dass Reitmaier X-Beine hatte.

Er lief an, zielte – und traf. Flach, erst durchs Schusters Beine in der Mauer und dann durch die von Reitmaier. Dieser Schuss, der das Pokalfinale 1996 entschied, kam aus dem Bauch und war ein Gemisch aus Kunst und Glück.

Es fiel kein weiteres Tor mehr an diesem Abend. Als Schiedsrichter Hellmut Krug abpfiff, begann Wagner zu humpeln. Jetzt, wo alles vorbei war, spürte er den bleiernen Schmerz im Fuß. Und seine Gefühle ritten auf einer wilden Achterbahn.

Stolz und Frust kämpften in ihm wie zwei Schwergewichtsboxer, die abwechselnd zu Boden gehen. Auf der einen Seite war er, Martin Wagner, plötzlich der Pokalheld – mit dem wichtigsten Tor seines Lebens. Doch das machte diesen furchtbaren Abstieg in die Niederungen der 2. Liga nicht ungeschehen, sondern noch bizarrer. Morgen würden sie aufwachen mit dem Kater der Siegesfeier und dem noch viel mieseren Gefühl, doch eine Bande von Versagern zu sein.