Leseprobe - Kapitel 2: Der Handball-Mythos 1978

Wie Arno Ehret und Arnulf Meffle vom TuS Hofweier mit dem Nationalteam in Dänemark Weltmeister wurden

Die Vester Farimagsgade Nummer 9 im Zentrum der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ist eine Adresse, die untrennbar mit einem der größten Mythen des deutschen Sports verbunden ist. Dort steht das 1958 erbaute „Imperial“, das seit seiner letzten Renovierung im Jahr 2009 ein modern designtes Tagungshotel mit 300 Zimmern auf sechs Etagen ist.

Am Samstag, 4. Februar 1978, logierten im „Imperial“ die vier besten Mannschaften der neunten Handball-Weltmeisterschaft der Männer, die seit 26. Januar in Dänemark ausgetragen wurde und tags darauf in der Brøndby-Halle ihrem finalen Höhepunkt entgegenstrebte.

Es war die Zeit des kalten Krieges zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten Deutschlands mit Bespitzelung, Neid und Missgunst – vor allem von Seiten des DDR-Regimes. Die Schießanlagen und Todesstreifen entlang der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten waren die hässlichste Fratze dieser Feindschaft zweier Gesellschaftssysteme.

Längst hatten DDR-Staatsratschef Erich Honecker und seine Gefolgsleute den Sport als Spielwiese entdeckt, um den verhätschelten Wohlstandsjüngern aus der BRD die Überlegenheit des sozialistischen Systems um die Ohren pfeifen zu lassen wie den eisigen Ostwind, der in diesen Tagen durch Kopenhagen fegte. Weil das im Fußball mit Ausnahme des legendären Sparwasser-Tores zum 1:0-Triumph bei der WM 1974 in Hamburg selten bis nie gelang, spielte der Handball für die Machtdemonstration eine umso wichtigere Rolle.

Deshalb war das Stimmungsbarometer im Lager der DDR an diesem 4. Februar 1978 äußerst durchwachsen. Am Nachmittag hatte das ostdeutsche Team um Star-Torwart Wieland Schmidt durch einen 19:15-Sieg gegen Jugoslawien das kleine Finale gewonnen. Diese Bronzemedaille war aber für den Vizeweltmeister von 1974 mit dem noch unerfahrenen Trainer Paul Tiedemann das Minimum, das Must-have, was bei diesem Turnier herausspringen musste.

So weit, so gut.

Aber: Die Tatsache, dass die unter ihrem kroatischen Coach Vlado Stenzel ziemlich aufmüpfig gewordene BRD-Auswahl den Einzug ins Endspiel geschafft hatte, zog im Osten jedem Hauch von Behaglichkeit den Zahn. Zumal das Trauma von Karl-Marx-Stadt knapp zwei Jahre zuvor noch immer eine offene Wunde war: Stenzels damals blutjunge Greenhorns hatten den etablierten DDR-Assen das Ticket für die Olympischen Spiele 1976 in Montréal weggeschnappt.

Als nach dem Spiel um Platz drei der WM im Bankettsaal des „Imperial“ hinter geschlossener Tür die sozialistischen Lieder geträllert und sämtliche Teller geleert waren, bahnte sich doch noch eine Spur von Selbstzufriedenheit ihren Weg. Und die Augen der Aufpasser verloren mit jedem Tuborg samt Aquavit an Schärfe.

Irgendwann waren die Genossen und Stasispitzel mehr breit als lang. Auf diesen Moment hatte der routinierte Linkshänder Wolfgang Böhme gewartet. Unbemerkt verließ er den Saal und machte sich mit einigen Bierdosen auf den Weg Richtung Fahrstuhl. Doch er ließ sein Zimmer links liegen und lief weiter den dunklen Flur hinunter zu den auf dem gleichen Stockwerk gelegenen Zimmern der BRD-Mannschaft.

Keiner war ihm gefolgt. So klopfte er unbemerkt an eine Tür, deren Nummer er sich vorher besorgt hatte. Das war ein gefährlicher Tabubruch, denn der Kontakt zu westdeutschen Spielern war strikt verboten. Wäre er dabei erwischt worden, hätte das fatale Folgen für die Karriere und das weitere Leben des Wolfgang Böhme in der Deutschen Demokratischen Republik gehabt.

Doch Sekunden später war die Gefahr gebannt, als Kurt Klühspies die Tür öffnete.

Der westdeutsche Linkshänder vom TV Großwallstadt blickte in das Gesicht des ostdeutschen Linkshänders vom SC Empor Rostock. Die beiden hatten sich zwei Jahre zuvor nachts an einer Hotelbar in Karl-Marx-Stadt kennengelernt und sich etliche Monate später bei einem Spiel in Großwallstadt angefreundet, das im Rahmen des deutsch-deutschen Sportverkehrs stattfand. Deshalb hieß Klühspies den Überraschungsgast herzlich willkommen – auch wenn ihm das gerade gar nicht in den Kram passte.

Denn der blonde Hüne und sein schnauzbärtiger Zimmergenosse Heiner Brand vom VfL Gummersbach hatten das aufregendste Spiel ihrer jungen Handballkarriere noch vor sich: Sie waren gerade dabei, den nötigen Schlaf vor dem WM-Finale zu finden.

Doch daraus wurde erst mal nichts.

Auch die beiden westdeutschen Strategen hatten Bier auf Lager – sogar ganz offiziell mit Genehmigung ihres Trainerautokraten Vlado Stenzel, der es für eine seiner vielen Listen hielt, den Spielern vor dem größten Moment ihres Sportlerlebens mit dem Genuss von Gerstensaft ein bisschen Lockerheit und Entspannung zu verschaffen.

An Bier fehlte es nicht. Aber erst als die Dosen geleert waren, ging es richtig zur Sache. Thema: Deutschlands Endspielgegner UdSSR, den der Nimbus der Unbesiegbarkeit umgab.

Von vielen Aufeinandertreffen kannte Böhme die Spielweise der Russen aus dem Effeff. Weil er aber die sozialistischen Brüder nicht ausstehen konnte, bereitete es ihm ein diebisches Vergnügen, die BRD-Auswahl zu coachen. Böhme tat das, indem er auf dem Fußboden mit Hilfe der Bierdosen die wichtigsten Spielzüge der UdSSR demonstrierte.

Schließlich sagte er den Satz, an den sich Klühspies noch genau erinnert: „Wenn einer die Russen schlagen kann, dann ihr!“ Sprach’s, machte sich aus dem Staub und schlich zurück zum DDR-Bankett. Auch das gelang ihm unbemerkt.

Klühspies und Brand fielen endlich ins Bett – und behielten die Geschichte erst mal für sich.

Dass die erst viele Jahre später als Bierdosenaffäre bekannt gewordene deutsch-deutsche Verbrüderung der Linkshänder das WM-Finale entschieden haben soll, stimmt aber nur bedingt. Denn nebenan im Linksaußen-Zimmer wurde ebenfalls fleißig am Triumph gebastelt.

Dort redeten sich Arno Ehret vom TuS Hofweier und Jimmy Waltke von GW Dankersen die Köpfe heiß. Schuld daran war Stenzel. Der hatte Waltke zwar drei Jahre zuvor als namenlosen Verbandsligaspieler des TV Hille in die Nationalmannschaft katapultiert, was es so noch nie gegeben hatte, zeigte dem inzwischen längst in der Bundesliga etablierten Flügelspieler während der WM aber die eiskalte Schulter.

Waltke, der eigentlich Dieter hieß, wegen seiner Jimy-Hendrix-Frisur aber Jimmy genannt wurde, hatte das ganze Turnier nur auf der Tribüne gesessen und war spätestens in der Hauptrunde so stinkig, dass er vorzeitig abreisen wollte. Was an der Menschenführung des Bundestrainers lag, die bisweilen missachtende Züge hatte. „Stenzel erklärte so etwas nicht“, sagte Waltke 40 Jahre später dem „Spiegel“, „er verkündete vor den Spielen seine Aufstellung, ich war nicht ein einziges Mal dabei. Ich fühlte mich überflüssig, zumal ich in den Vorbereitungsspielen eine gute Rolle gespielt hatte.“

Das hieß: Ehret musste Schwerstarbeit verrichten mit seinem Zimmerkollegen, der eigentlich sein Konkurrent war. Doch die beiden mochten sich. Und schätzten einander. „Jimmy hat geflucht, gemacht und getan“, erinnert sich Ehret. Doch schließlich konnte er Waltke überzeugen, dass es besser war zu bleiben.

Und prompt zauberte Stenzel am Freitagmorgen bei der Mannschaftsbesprechung Waltke als zweiten Linksaußen fürs Finale aus dem Hut. In der Nacht vor dem Endspiel, während im Klühspies-Zimmer aus Bierdosen russische Handballer wurden, warf Waltke seinen Frust über Bord. „Wir haben lange geredet“, sagt Ehret, „und irgendwann hat Jimmy so eine Art Leck-mich-am-Arsch-Haltung entwickelt.“ Dass genau die am nächsten Tag matchentscheidend sein würde, konnte keiner der beiden deutschen Linksaußen wissen.

Drei Zimmer weiter den Flur hinunter schlummerte Arnulf Meffle aus dem Schutterwälder Ortsteil Langhurst an der Seite von Kapitän Horst Spengler, ohne einen einzigen Schluck Bier genommen zu haben, einem Tag entgegen, der auch das Leben des 20 Jahre und zwei Monate alten Abiturienten auf faszinierende Weise beeinflussen sollte.