Leseprobe - Kapitel 14: Der Jojo-Effekt
Speerwurf-Weltmeister Johannes Vetter kam nach Rückschlägen stets noch stärker zurück. Gelingt das noch ein letztes Mal?
Bleigraue Wolken hängen über Luzern. Und Donnergrollen vom Vierwaldstätter See empfängt Johannes Vetter, als er seinen Wagen am Allmend-Stadion parkt. Nass ist es in der Innerschweiz, kühl und ungemütlich am Nachmittag des 11. Juni 2017.
Vetter nimmt das gelassen zur Kenntnis. Er ist ganz bei sich und schwebt noch auf den Resten der Wolke sieben. Die Nachwirkungen vom Wochenende …
Nicht dass er frisch verliebt wäre, die Schmetterlinge im Bauch sind anderer Art. Zwei Tage zuvor war der Wahl-Offenburger in Erfurt zum ersten Mal Deutscher Meister im Speerwerfen geworden. Was für ein Gefühl! Zumal die Eltern auf der Tribüne des Steigerwaldstadions in der thüringischen Landeshauptstadt saßen, als der Filius das 800 Gramm schwere Wurfgerät im ersten Versuch auf 89,35 Meter schleuderte. Das war die beste Weite, die bis dato bei einer Deutschen Meisterschaft erzielt wurde. Und das konnte auch an diesem Tag keiner kontern. Selbst Thomas Röhler nicht, der sich ein Jahr zuvor in Rio de Janeiro als Olympiasieger feiern lassen durfte. Auch Vetters zweitbester Wurf in Erfurt über 89,23 m war noch deutlich weiter als die 85,24 Meter, die Röhler erzielte.
„Cool“, dachte Vetter und spürte, dass er jetzt, drei Jahre nach dem Umzug nach Offenburg, auf einem Niveau angekommen war, das stabil bei 87 Metern und darüber lag.
Am Abend fuhr er die 462 Kilometer zurück nach Offenburg, die Eltern hinterher. Gegen Mitternacht traf der kleine Konvoi am Hotel „Best Western“ in Durbach ein, wo Familie Vetter den Triumph des Sohnemannes mit Sekt und ein, zwei Bierchen begoss. Einziger Wermutstropfen des Wochenendes: Mutter Kerstin Vetter hatte seit Kurzem Sehstörungen auf einem Auge. In dem ganzen Trubel mit Fernsehen und Interviews maß Johannes diesem Handicap aber noch keine allzu große Bedeutung bei.
Er zog sich zurück in seine kleine Wohnung im Durbacher Ortsteil Ebersweier, schlief am Montag genüsslich aus und traf sich dann mit der Journalistin Michaela Quarti zum Interview. Dabei gab er zu: „Die Frage nach dem ersten 90-Meter-Wurf nervt langsam schon.“ Doch er reagierte unaufgeregt: „Die 90 Meter werden kommen. Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Jahr.“ Nachdem das geklärt war, machte er ein paar Auflockerungsübungen und ging abends mit den Eltern essen.
Am nächsten Morgen war Luzern angesagt: das Meeting „Spitzenleichtathletik“. Diese Traditionsveranstaltung hat einen guten Ruf und stand auch schon regelmäßig im Wettkampfkalender von Vetters Trainer Boris Obergföll, der unter seinem „Mädchennamen“ Boris Henry zu den besten Speerwerfern der Welt gehörte. Auch seine Frau Christina Obergföll, die Weltmeisterin von 2013, startete immer gerne in Luzern.
Nach der zweistündigen Autofahrt in die Schweiz begibt sich Johannes Vetter zum Aufwärmen auf die Wiese am Stadion. Dort wundert er sich über sich selbst: Trotz der Strapazen der letzten Tage merkt er, wie es beim Einwerfen nur so flutscht: „Ich hatte ein supergeiles Gefühl und spürte: Es liegt was in der Luft.“
Dass die Anlaufbahn noch feucht vom Regen ist, stört ihn so wenig wie die Windstille, die grundsätzlich kein Freund der Werfer ist. Dann passiert es: Vetter läuft zum ersten Versuch an und drischt den Speer mit voller Wucht. Er landet bei 90,75 Metern.
„Jawoll!“, jubiliert er, „endlich ist er da, der erste 90-Meter-Wurf!“
Ganz nebenbei hat Vetter in diesem Moment die persönliche Bestmarke seines Trainers und Mentors übertroffen. Die steht bei 90,44 m und datiert vom 9. Juli 1997. Doch Boris Obergföll hat keine Zeit, darüber nachzusinnen. Denn sein Schützling macht in atemberaubender Weise weiter. Zweiter Versuch: 91,06 Meter. Die nächste persönliche Bestleistung. „Diese Weite ist erklärbar“, sagt er später den Medien, „weil’s einfach lief.“
Doch was dann kommt, sprengt die Vorstellungskraft aller Beteiligten. Vetter haut im dritten Versuch 93,06 Meter raus. Exakt zwei Meter weiter als gerade eben noch. „Weniger erklärbar“, sagt er später.
Dann beginnt das Zwiegespräch mit dem Coach. Beide haben bereits Freudentränen im Auge. Die Frage lautet: aufhören oder weitermachen? Eine reine Risikoabwägung. Denn beim dritten Wurf hat die linke Wade gezwickt. „Boris, ich weiß nicht, soll ich nochmal werfen?“ fragt Vetter.
In diesem Moment vibriert das Handy des Trainers. Seine hochschwangere Frau, die zu Hause bei der Live-Übertragung von Eurosport vor Aufregung fast einen Ausschlag bekommt, schreibt per WhatsApp: „Wenn Johannes jetzt nicht aufhört, kriege ich eine Frühgeburt …!“
Boris Obergföll zögert, dann sagt er: „Wenn’s jetzt patsch macht in der Wade, dann steht deine WM-Teilnahme auf der Kippe.“ Auch Vetter zögert: „Boah, ich weiß nicht. Ich bewege mich noch ein bisschen und überlege derweil.“ Er nimmt die Blackroll zu Hilfe und massiert damit die Muskulatur am Unterschenkel. Tatsächlich lässt sie sich ein wenig lockern.
Dann sagt eine innere Stimme: „Mach‘ noch einen Wurf!“ Vetter nimmt das sehr deutlich wahr. „Ich weiß nicht, woher diese Stimme kam. Es war wie eine göttliche Eingebung.“
Er folgt der Stimme. Und geht aufs Ganze. Alles, was er hat, legt er in diesen vierten Versuch. „Angelaufen, draufgerotzt“, sagt er. Vetter hat dermaßen viel Energie in diesen Wurf gepackt, dass er seinen Körper nur noch mit Hilfe einer Bauchlandung abfangen kann, ohne die Abwurflinie zu überschreiten. Der Speer fliegt und fliegt – und landet bei sagenhaften 94,44 Metern. Das ist neuer deutscher Rekord. 54 Zentimeter weiter, als Thomas Röhler sechs Wochen zuvor in Doha in Katar geworfen hat. Davor hat es 20 Jahre lang keine Verbesserung gegeben.
Vetter ist wie im Tunnel. Adrenalin bis zur Halsschlagader. Ein aberwitziger Gedanke jagt ihm durch den Kopf: „Sechs Würfe über 90 Meter in einem Wettkampf, das hat noch nie einer geschafft.“ Aller Verletzungsgefahr zum Trotz wirft er ein fünftes Mal. 89,50 m. Danach verzichtet er auf den letzten Versuch.
Nachdem auch die Eltern ihre Freudentränen getrocknet haben, spendiert Papa Chris seinem Sohn im Allmend-Stadion zwei Bratwürste. Eine Feier im Restaurant fällt der Dopingkontrolle zum Opfer. Danach setzen sich alle ins Auto. „Das waren die schönsten zwei Stunden am Steuer“, erinnert sich der große Sieger von Luzern. Daheim zischt er noch das eine oder andere Bierchen. Und nach nur vier Stunden Schlaf wacht Johannes Vetter in einer anderen Speerwurfwelt auf. „Was erwarten die Menschen und die Leichtathletik nun von mir?“, fragt er sich.