Leseprobe - Kapitel 11: Mitten ins Herz
Die Speere von Christina Obergföll und Boris Henry flogen um die ganze Welt, ehe sie zu Amors Pfeilen wurden
Im Zuge des gemeinsamen Lebens der beiden deutschen Speerwurf-Asse reifte in Christina Obergföll der Entschluss, ihren künftigen Ehemann Boris Henry auch als Trainer in Anspruch zu nehmen. Dafür gab es sehr praktische Gründe. „Durch unsere Beziehung hatten Boris und ich das Thema Speerwurf logischerweise immer ein stückweit zuhause. Und das wollte ich nicht.“
Christina plädierte für eine Trennung zwischen Beruf und Privatsphäre: „Ich wollte das Speerwerfen nicht mit nach Hause schleppen.“ Gleichzeitig war sie aber erpicht darauf, die Expertise von Boris zu nutzen: „Mich hat interessiert und gereizt, was er von sich gegeben hat, weil ich gemerkt habe, dass er absolut Ahnung hat.“
Auch im Trainingslager in Portugal flutschte es. Christina war ohne Zipperlein über den Winter gekommen und fühlte sich nach 260 Tagen Wettkampfpause wie neu geboren. Sie hatte ihre Master-Arbeit fürs Studium eingereicht und damit Ballast abgeworfen. „Ich fühle mich super“, stellte sie fest, „so gut wie noch nie!“ Auch der Kopf war frei – und sie kannte den Grund: „Die Silbermedaille von London war wie eine Befreiung. Was jetzt noch kommt, ist Zugabe.“
Abgerundet wurde der Wonnemonat Mai durch eine E-Mail aus Tschechien. Barbora Spotakova war Mutter geworden und teilte Christina mit: „Mein kleiner Junge ist das Beste, was mir passieren konnte!“ Der Nebeneffekt war auch nicht ohne. Mit Spotakova, die so kurz nach der Entbindung nicht antreten konnte, war Obergföll eine ihrer schärfsten Rivalinnen für die bevorstehende Weltmeisterschaft in Moskau los.
Aus dieser Gemengelage heraus kam es zu der Namenswette mit Boris Henry, der sich tatsächlich darauf einließ, nach der Hochzeit im September Obergföll zu heißen, falls seine künftige Frau als amtierende Speerwurfweltmeisterin vor den Traualtar treten würde.
Beim letzten Pressegespräch vor dem Abflug in die russische Hauptstadt ließ Christina die Katze aus dem Sack. Im Prinzip war die Fragerunde schon durch. „Gibt’s sonst noch was?“, wollte einer der Journalisten wissen. Dann rutschte es Christina raus: „Wir haben da so eine Wette am Start ...“
In diesem Moment hatten die Medien ihr großes Thema – und das ließ sich nicht mehr einfangen.
Moskau empfing Christina Obergföll mit der Wucht und Faszination einer pulsierenden Weltmetropole. Sie spürte erst jetzt so richtig, worauf sie sich da einließ: Auf das Heimspiel von Maria Abakumova, deren muskelgestählter Körper unter Dauer-Doping-Verdacht stand und ihr schon vor dem Wettkampf auf vielen riesigen Plakaten in der russischen Hauptstadt begegnete. Das wirkte wie eine gewaltige Drohung.
Werner Daniels war in Offenburg geblieben. Schließlich gehörte Boris Henry kraft seines Amtes zur Equipe. „Der DLV freut sich doch, wenn er einen Bundestrainer hat, der das mit Christina zusätzlich machen kann“, kommentierte Daniels zunächst ein bisschen spitz, lenkte jedoch im nächsten Satz ein: „Es stimmt schon – zu viele Trainer im Stadion verderben die Athletin.“
Die erste Runde im Luschniki-Stadion ging eindeutig an Maria Abakumova. Bei der Qualifikation setzte die Lokalmatadorin mit 69,09 Metern ein gewaltiges Ausrufezeichen. Der Obergföll’sche Speer landete bei mickrigen 62,36 m. Henry beschönigte nichts: „Dieser Wurf war echt schlecht.“
Am Tag vor dem Finale hatte Christina plötzlich wieder Magen-Darm-Probleme. Es war nicht so schlimm wie in Barcelona, doch sie bekam weiche Knie. Auch mental. „Das gibt’s doch nicht! Warum bekomme ich immer vor dem Wettkampf Magen-Darm?“, sagte sie zu Boris.
Dann konsultierte sie einen Arzt, der ihr ein Magenmedikament verschrieb.
Ihre Zweifel gingen so weit, dass Henry sagte: „Dann trete nicht an. Nicht, dass du dir danach wieder irgendwelche Sachen anhören musst.“
Christina haderte in einem fort. „Das kann doch nicht sein ...!“ Sie war trotz ihrer fast 32 Jahre extrem nervös und vor allem unsicher. „Ich schaff’ das nicht“, sagte sie zu ihrem Freund, „und die Abakumova hat 69 Meter geworfen. Wie soll ich die schlagen? Überhaupt werden die Russen alles tun, damit ich hier nicht gewinne.“
Dann sagte Boris Henry: „Ruf Hans Eberspächer an! Sprich mit Hans.“
Christina griff sofort zum Hörer. Boris verließ das Zimmer.
Eberspächer hatte Christina in den vielen Gesprächen zuvor immer wieder gesagt: „Wenn der Vogel über dem Kopf kreist, ist das in Ordnung. Der darf das. Aber wenn der Vogel anfängt, ein Nest zu bauen, dann rufst du mich an!“
Der Vogel stand für Zweifel.
Und Christina Obergföll hatte gerade das Gefühl, dass dieser Vogel dabei war, ein richtig großes Nest zu bauen. Sie erzählte dem erfahrenen Psychologen, wie es in ihr aussah.
Dann wurde Eberspächer deutlich. Sehr deutlich. Er sagte: „Entweder, du gehst jetzt da rein in dieses Stadion und du kannst das – und du hast schon oft gezeigt, dass du es kannst –, oder du gehst halt nicht. Dann setz’ dich doch in dein Zimmer und heul’! Oder du kneifst jetzt deine Arschbacken zusammen, gehst da rein und machst genau das, was wir besprochen haben!“
Besprochen war Folgendes: Christina bleibt im Wettkampf stets bei sich, nur auf sich fokussiert. Arzt und Patientin hatten Rituale entwickelt für die einzelnen Abläufe – stets mit dem Ziel, sich zu hundert Prozent darauf zu konzentrieren, einen guten Wurf zu machen. Und nicht zu überlegen, was die Konkurrenz tut. „Scheißegal“, hatte Eberspächer immer gesagt: „Es geht doch um dich!“
Der Psychologe muss exakt die richtigen Worte gefunden haben. Denn als Boris Henry nach einer Viertelstunde ins Zimmer zurückkehrte, fand er eine völlig verwandelte Christina vor. „Er hatte sie von einem ‚Ich bin total verunsichert und ich glaube, ich kann das nicht‘ so gedreht, dass sie gesagt hat: ‚Ich mache die morgen alle tot!‘“
Mit einem Mal glaubte Christina Obergföll wieder an sich.