Leseprobe - Kapitel 10: Der Goldfisch von Atlanta
Das Schicksal beförderte Holger Kimmig ins Schwimmbecken. Dort gewann er 15 Medaillen bei drei Paralympics. Bei Mario Kofler war es eine
Der 13. Juni 1986 ist ein warmer Sommertag. Die Pfingstferien liegen schon drei Wochen zurück, aber die Gedanken von Holger Kimmig kreisen, wie das bei einem Elfjährigen so ist, am allerwenigsten um die Realschule, die er seit vergangenem Herbst besucht. In diesen Tagen dreht sich seine Welt einzig und allein um die Fußball-WM in Mexiko. Er ist tierisch gespannt aufs letzte Gruppenspiel am Abend, das um 20 Uhr deutscher Zeit in Querétaro angepfiffen wird. Dabei geht es für die holprig ins Turnier gestartete Nationalelf von Teamchef Franz Beckenbauer um den Einzug ins Achtelfinale.
Die starken Dänen, die diesem Vorhaben im Weg stehen, bereiten Holger deutlich mehr Kopfzerbrechen als der Zahnarzttermin, den er vorher noch zu erledigen hat. Um 14:30 Uhr ist er in die Praxis von Dr. Peter Maaß in Willstätt bestellt.
Angst vor dem Zahnarzt kennt Holger Kimmig nicht, außerdem handelt es sich um einen Routinetermin. Das Spannende daran ist: Es wird gleich eine Premiere geben. Denn er darf die Strecke zum ersten Mal allein radeln. „Endlich“, denkt Holger, als er das Fahrrad vom Hof schiebt. Nur fünfeinhalb Kilometer sind es von der elterlichen Wohnung Auf dem Stein 1 im Kehler Stadtteil Kork bis nach Willstätt in die Schulstraße 27, wo sich die Praxis befindet.
Holger kennt den Weg aus dem Effeff. Schon x-mal ist seine Mutter die Strecke mit ihm Probe gefahren. Immer schön vorsichtig „hintenrum“ auf landwirtschaftlichen Wegen, abseits der Hauptverkehrsstraßen.
Also radelt Klein-Kimmig brav entlang der L90 bis Odelshofen und biegt dann in Höhe des Gasthauses „Krone“ rechts ab. Von dort geht der geteerte Weg Richtung Korker Baggersee. Über die Bundesstraße 28 führt eine Brücke. Als Holger die Auffahrt hinter sich hat, verweilt er oben ein paar Minuten, um die unter ihm durchfahrenden Autos zu beobachten. Dabei überfällt ihn ein wenig das Fernweh, und er stellt sich vor, wie es später mal sein würde, wenn er selbst Autofahren könnte …
Jäh reißt ihn aber der Gedanke an Dr. Maaß aus seinen Träumereien. Er schaut auf die Uhr und erkennt: „Jetzt muss ich weiter, sonst komme ich zu spät!“
Etwa 150 Meter lang führt die Straße bergab. Auch Autos dürfen hier fahren. Unten kommt abrupt eine T-Kreuzung. Rechts geht’s zum Baggersee, links nach Willstätt. Eine Vorfahrtsregelung ist nicht ausgeschildert. Also gilt: rechts vor links. Holger will nach links abbiegen, hat aber wegen der Bäume und dichten Büsche im Bereich der Kreuzung keinerlei Sicht auf das, was sich von links nähern könnte.
So geht es auch dem Fahrer des Kieslasters, der geradeaus zum Baggersee will. Eigentlich müsste er an der unübersichtlichen Kreuzung anhalten, um zu schauen, ob jemand von rechts die Böschung herunterkommt, der dann Vorfahrt hätte. Weil das gefühlt selten bis nie der Fall ist, rollt er über die Kreuzung. Plötzlich aber hat er diesen Jungen auf dem Fahrrad vor sich. Mit weit aufgerissenen Augen und mit aller Kraft tritt er in die Bremse, aber es ist zu spät. Wie ein Phantom ist Holger Kimmig hinter den Büschen hervorgekommen.
Die Reifen quietschen, und im gleichen Moment ertönt das grässliche, metallene Klirren des Fahrrads, das über den Asphalt schrappt. Der Kieslaster trifft Holger frontal und überrollt ihn. Danach herrscht gespenstische Stille.
Holger verliert augenblicklich das Bewusstsein. Ein paar Minuten später kommt er kurz zu sich. Er sieht einen Mann, der sich über ihn beugt. Und hört, wie der Fahrer des Kieslasters ihn nach seinem Namen fragt. „Holger Kimmig“, antwortet er fast mechanisch, und er kann auch noch seine Adresse und die Telefonnummer der Eltern nennen.
Das letzte, was er danach wahrnimmt, ist, wie ein Hubschrauber auf dem Acker des angrenzenden Aussiedlerhofes landet. Dann fehlt jede Erinnerung.
Als Holger Kimmig aufwacht, liegt er in einem Krankenhausbett, zugedeckt bis zum Hals. Er weiß nicht, wo er ist. Er sieht nichts, er spürt nichts, er begreift nichts. Kein Wunder – sein Körper ist vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Dann bemerkt er, dass seine Eltern am Bett sitzen.
Sie sind erleichtert, dass ihr Sohn ansprechbar und klar ist. Aber es lastet eine zentnerschwere Bürde auf den beiden. In den nächsten Minuten muss es raus. Dann nimmt Doris Kimmig, die als Krankenschwester arbeitet, all ihren Mut zusammen und sagt: „Holger, die Ärzte mussten dir das rechte Bein am Oberschenkel amputieren.“
Diese Nachricht ist krass. Sie kommt jäh und wirkt im ersten Moment abstrakt. Aber, und das begreift der Elfjährige ziemlich schnell: Sie stellt sein bisheriges Leben auf den Kopf.