Leseprobe - Kapitel 1: Die Klitschkos in der Stadt

Offenburg staunte über zwei schlagkräftige Brüder aus Kiew, und Thomas Seiler war der heimliche Star

Es war kurz nach zwei am Nachmittag des 20. Mai 1998. Die Gustav-Rée-Anlage in der Offenburger Innenstadt wirkte fast menschenleer. Trotz der frühsommerlichen Wärme. Die Angestellten der Sparkassen-Zentrale nebenan hatten nach der Mittagspause die Parkbänke geräumt. So kam es, dass es kaum Zeugen gab für eine ungewöhnliche Begegnung zweier Männer, die nicht nur äußerlich grundverschieden waren.

Vis-à-vis standen in der prallen Sonne ein junger, 1,98 Meter großer, kantiger, vor Muskelkraft fast platzender und von Kopf bis Fuß schwarz gekleideter Ukrainer, der vom Auftragsmörder bis zum Gegenspieler von James Bond in jede Bösewicht-Rolle der Filmindustrie gepasst hätte, sowie ein kariertes Hemd mit Jeans, das 30 Zentimeter kleiner war und dessen verschmitztes Lächeln gar nicht mehr aufhören wollte.

Als zum Zwecke der Begrüßung ein Händedruck drohte, fürchtete der Offenburger Stadtmusikdirektor Thomas Berger für einen Moment ernsthaft um seine Finger, die in seinem 34 Jahre alten Leben eine genauso tragende Rolle spielten wie die sich ihm entgegenstreckende XXL-Hand in dem von Wladimir Klitschko, dem amtierenden Box-Olympiasieger im Schwergewicht.

Doch Bergers Sorge erwies sich als komplett überflüssig: „Der hat Manieren wie ein echter Gentleman“, verriet er mir später. Ich war Sport-Ressortleiter beim „Offenburger Tageblatt“ und als solcher vorwiegend in den Handball-Hallen am Start. Wenn es die Zeit zuließ, auch in Fußball-Stadien. Boxen kannte ich nur vom Fernsehen. Als die Klitschko-Brüder als neue Schwergewichtshoffnung auf der Titelseite der „Bild“ erschienen, um dann plötzlich in Offenburg aufzuschlagen, wusste ich aber sofort: Da musst du ran! Und Thomas Berger war der Gegenentwurf zu meinem Leben. Ein Vollblutmusiker mit Sportinteresse. Er schleppte den musikalischen Dilettanten Kastler in die Konzertsäle der Offenburger Stadtkapelle. Wir hatten uns an seinem 32. Geburtstag in einer Ortenberger Kneipe kennengelernt, fanden jeweils das Metier des anderen spannend und waren Freunde geworden. So kam es, dass ich den Schwergewichtsboxer Klitschko und den Saxofon-Spieler Berger zusammenbrachte.

Es sollte ein Foto-Termin werden anlässlich der ersten Profibox-Veranstaltung in der Geschichte Offenburgs. Ein Hingucker – oder Eyecatcher, wie es in der Fachsprache heißt.

Wladimir Klitschko, 22 damals, galt in den Augen der Experten als künftiger Weltmeister aller Klassen und – was neu war in diesem halbseidenen Metier der Salonlöwen, Zuhälter und Ex-Knackis: Der Sohn eines Obersts aus Kiew war ein Feingeist. Anders als das Klischee: keiner der Faustkämpfer, die Frauen sammelten wie die Gürtel, die sie für ihre Titel umgeschnallt bekamen. Klitschko äußerte Interesse an einer handsignierten Skulptur von Dali.

„Bilder betrachten und Musik hören, das ist Massage für die Seele“, philosophierte er in einem Interview mit mir, das ich für das „Offenburger Tageblatt“ schrieb. Gitarre spielen konnte er bereits – trotz seiner gewaltigen Hände, die im Ring die Kontrahenten reihenweise zu Boden schmetterten. Sein nächstes Ziel hieß: Saxophon. „Ich habe in Kiew eine bekannte Gruppe aus Moskau gesehen. Da hat mir das Saxophon so gut gefallen, dass ich es auch lernen möchte“, sagte Klitschko. Und dafür gab es keinen besseren Lehrmeister als Thomas Berger, der in Mittelbaden trotz seiner jungen Jahre den Ruf einer Saxophon-Legende genoss und nicht nur die Offenburger Stadtkapelle dirigierte, sondern in Stuttgart regelmäßig im Orchestergraben saß, um das Musical „Miss Saigon“ mit bis zu drei Instrumenten zu begleiten.

Das Treffen der beiden bezog seinen Charme auch daraus, dass es der Kleine war, der dem Großen etwas beibringen sollte. Und es dauerte gar nicht lange, bis dem ehrgeizigen Klitschko die ersten Oktaven gelangen. „Wie geht die Handlung von Miss Saigon?“, wollte er von Berger wissen und wäre am Abend am liebsten mit nach Stuttgart in das SI-Centrum gefahren. Doch die Vernunft siegte. „Ich muss mich auf den Kampf konzentrieren“, sah Klitschko ein.

Dafür saß Berger drei Tage später vorne am Ring in der Offenburger Messehalle und war stolz wie Oskar auf ein spezielles Souvenir seines neuen Box-Idols. Das Blatt, das Klitschko bei der Saxofon-Übungseinheit in der Gustav-Rée-Anlage benutzt hatte, war danach blutig. Im Box-Ring hatte sich der ungeschlagene Ukrainer bis zu diesem Zeitpunkt nicht eine ernsthafte Schramme geholt. Doch beim krampfhaften Versuch, dem Instrument die gewünschten Töne zu entlocken, biss er so kräftig ins Mundstück, dass er sich an der Lippe verletzte. Dabei verzog er selbstverständlich keine Miene.

Berger lief auch Tage später noch mit einem Dauergrinsen durch die Gegend: „Ich habe was, das keiner hat: das Blut von Wladimir Klitschko.“