Wir sind auf Entzug

Der Sportsommer 2024 war ganz großes Kino. Es bleibt ein randvolles Regal der Erinnerungen. Schon weit nach hinten gerutscht ist das beste Spiel der Nationalelf seit dem WM-Triumph vor zehn Jahren, das die Nagelsmänner total unverdient gegen Spanien verloren. Die Tränen, die dem coolen Bundestrainer keiner zugetraut hätte, haben dem hartgesottenen Fußballgeschäft einen menschlichen Anstrich gegeben und die Nation bewegt. Die Gefühlswallungen, die durch die Olympischen Spiele ausgelöst wurden, entwickelten sich gar zu einem emotionalen Tsunami, der rund um den Globus ging.

Paris war großartig. Magnifique. Schon nach der verregneten Eröffnungsfeier machte das Prädikat „Seine-sationell“ die Runde. Die Goldmedaille für Wortschöpfung schien vergeben. Allein IOC-Boss Bach klammerte sich bis zum Schluss daran, übersah aber geflissentlich, dass sich die Freiwasserschwimmer nach den Wettkämpfen in der Brühe reihenweise übergeben mussten.

Ansonsten aber war rein gar nichts zum Kotzen – im Gegensatz zu Austragungsorten wie Peking, Pjöngchang oder Sochi. Paris lieferte unvergleichliche Kulissen von historischer Pracht und bettete die Spiele aller Terrorgefahr zum Trotz hinein in die faszinierende Atmosphäre der Stadt der Liebe.

Für zwei Wochen rückten die Probleme dieser zunehmend zerrütteten Welt an den Rand, und die globale Sportjugend inszenierte ihre Lebensfreude in modernen und antiken Disziplinen. Beim Skateboarden gingen dem Couchpotato am Fernseher genauso die Augen über wie angesichts des Höllentempos der Kitesurfer vor Marseille. Und was der Chinese Fan Zhendong und der Schwede Truls Möregårdh im Tischtennis-Finale aufführten, gehört in den Zirkus Roncalli.

Aber auch ältere Semester bewegten selbst hartgesottene Skeptiker. So verdrückte Alex Bommes ein paar Tränen, weil der abgezockte Tennis-Dominator Djokovic auf seine alten Tage noch das Herz des ARD-Reporters erobert hat – mit authentischem Jubel statt den üblichen aggressiven Gebärden.

Paris gebar neue Sieger der Herzen. Den Schwimmer Lukas Märtens und seine verflossene Liebe Isabel Gose, die so nah am Wasser gebaut hat. Oder 3x3-Basketballerin Sonja Greinacher, die das deutsche Team mit gebrochener Hand zu Gold führte. Und Yemisi Ogunleye. Ganz ehrlich. Ich habe tagelang geübt, um diesen Namen ohne Spickzettel auszusprechen.

Die Kugelstoßerin, die kaum einer kannte, stürzte erst auf ihr zweimal operiertes Knie und hatte am Ende nicht nur Gold um den Hals baumeln und ein Gospellied auf den Lippen, sondern auch noch Worte des Lebens parat. Im Stadion wies die gläubige Christin mit einem Plakat auf Johannes 3, Vers 16 hin – eine Schlüsselstelle des neuen Testaments: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat.“

Vorsicht, anschnallen: Jetzt kommt ein harter Cut: der Fußball-Alltag. Der Hoeneß ledert über den „Loddar“: „Sein Schmarrn geht mir langsam auf den Sack.“ Und Fer­nando Carro, CEO des Meisters Leverkusen, fährt im Transfergerangel um Jonathan Tah gegen seinen Bayern-Konkurrenten die Ellbogen aus: „Ich halte von Max Eberl nichts, absolut nichts.“

Willkommen in der bösen Welt. Wir geben unser Bestes, diesem Gezetere wenigstens Unterhaltungswert abzugewinnen, auch wenn wir in Wirklichkeit auf Entzug sind – weil Olympia vorbei ist und wir uns Christian Streich abgewöhnen müssen.

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