Im deutschen Fußball ist „Vizekusen“ ein gängiger Spottname und hat’s bis zum Patent gebracht. Der Pharma-Hersteller Bayer AG ließ den Begriff im Jahr 2010 als Markenzeichen eintragen. Zum Schutz vor Missbrauch. Ein Schuss Selbstironie war wohl auch dabei.
Denn die Fußballer von Bayer 04 haben Anfang der Nuller-Jahre alles Erdenkliche getan, um aus Leverkusen „Vizekusen“ zu machen. Denken wir nur an die Saison 2001/2002. Da verloren die Kicker vom Niederrhein das Finale der Champions League gegen Real Madrid 1:2, unterlagen im Pokal-Endspiel Schalke 04 mit 2:4 und wurden hinter Dortmund Vizemeister. Als wäre das nicht genug, kehrten die Bayer-Strategen Ballack, Schneider und Ramelow als Vize-Weltmeister aus Japan zurück.
Angefangen hatte das mit dem „Vize“ vor dem „kusen“ schon zwei Jahre zuvor. Da war Bayer als Tabellenführer mit drei Punkten Vorsprung vor dem FC Bayern zum Saisonfinale in den Münchner Vorort Unterhaching gekommen. Dort setzte es eine traumatische 0:2-Niederlage, zu der Ballack mit einem Eigentor beitrug. Und Meister wurde nicht Bayer, sondern wieder mal Bayern – wegen der besseren Tordifferenz.
22 Jahre danach fragt sich Deutschland: Wird jetzt wirklich alles anders? Ist Leverkusen bald „Doublekusen“? Oder gar „Triplekusen“?
Der Mann, der den Unterschied machen soll, heißt Xabier Alonso Olano. Mit 42 Jahren hat der Baske eine Vita, die streng nach „Kaiser“ riecht: Als Spieler gewann er mit Real Madrid und dem FC Liverpool die Champions League, wurde Welt- und Europameister sowie spanischer Meister und mit dem FC Bayern deutscher Meister und DFB-Pokalsieger.
Klaus Toppmöller, Bayer-Coach der „Vizekusen“-Zeit, sagt über seinen späteren Nachfolger: „Er war als Spieler schon ein Trainer.“ Als ihn sein Landsmann, der Bayer-CEO Fernando Carro, im Oktober 2022 nach Leverkusen holte, hatte der Trainer Alonso erst zwei Stationen: die C-Jugend von Real Madrid und die „Zweite“ seines Heimatvereins Real San Sébastian.
Xabi übernahm Bayer im Abstiegskampf und bastelte aus der grauen Werkself in nur anderthalb Jahren eines der schillerndsten Teams in Europa. Er hauchte den Spielern seine Siegermentalität ein, brachte ihnen Strategie bei und lockte Ausnahmekönner wie den Zauberfuß Grimaldo an den Rhein.
Leverkusen ist zum ernsthaften Herausforderer des Branchen-Krösus aus München geworden – und tanzt noch in drei Wettbewerben.
Im Pokal gewann Bayer im Viertelfinale das vorweggenommene Endspiel gegen den VfB Stuttgart nach zweimaligem Rückstand mit 3:2. „Die beiden besten Mannschaften der Liga haben gegeneinander gespielt“, sagte VfB-Torjäger Undav. Das war frech, aber richtig.
Denn im Schalen-Kracher, wie die „Bild“-Zeitung den neuen deutschen Clásico Bayer gegen Bayern nennt, zog Leverkusen beim 3:0 den Münchnern dermaßen die Lederhosen aus, dass der Abo-Meister vor nackte Tatsachen gestellt wurde.
Die da heißen: Superstürmer Kane hatte keinen Abschluss, die Bayern nichts, was den Namen Torchance verdient. Und Leverkusens märchenhafte Bilanz dieser Saison lautet wettbewerbsübergreifend: 31 Spiele, 27 Siege, keine Niederlage.
Das Saisonfinale ist noch 13 Spiele entfernt. Dann muss Bayer gegen den FC Augsburg ran. Wieder so ein bayrischer Underdog, wenn auch nicht ganz so krass wie Unterhaching. Aber es ist ein Heimspiel, und zumindest Michael Ballack kann kein Eigentor mehr schießen.