Den 1. FC Heidenheim mit der Nationalelf vergleichen – auf den ersten Blick kann das nur ein Betrunkener oder ein gebürtiger Heidenheimer wie ich. Auf den zweiten Blick ist vielleicht doch was dran. Beide stehen vor einer richtungsweisenden Saison, beide haben drei prominente Abgänge.
Bundestrainer Julian Nagelsmann muss eine neue Hierarchie entwickeln – ohne Kapitän Gündogan, ohne Kultfigur Thomas „Radio“ Müller und Torwart-Denkmal Neuer, der mit 38 Jahren den Zahn der Zeit akzeptiert hat. Kurzzeitrückkehrer Toni Kroos war eh nur eine Übergangslösung.
In Heidenheim sind 30 von 50 Toren abgewandert: Tim Kleindienst, hinter Harry Kane und „Fülle“ Füllkrug der drittbeste Neuner der Bundesliga, sowie Schnippelkünstler Jan-Niklas Beste und der Turbo-Türke Eren Dinkci.
Vor der angeblich so verflixten zweiten Saison hatten die Schwarzmaler Hochkonjunktur. Doch was passiert? Binnen einer Woche hat sich der SC Freiburg der Ostalb für die Conference League qualifiziert, dort mit dem FC Chelsea das große Los gezogen und zwei Tage später die Tabellenführung in der Bundesliga übernommen. „Man muss sich inzwischen fragen, wer das Vorbild ist“, zieht SC-Sportvorstand Jochen Saier den Hut vor den schwäbischen Brüdern im Geist.
Mit Discounter-Vergleichen wie „Aladin und die Wunderlampe“ oder „Märchen aus tausendundeiner Nacht“ ist die Entwicklung in Heidenheim nur ungenügend umschrieben. Die Fans sind besoffen vor Glück. Schuld am Rausch ist ein 18-jähriger Leihspieler des FC Bayern. „Wanner-Wahnsinn“, jubelt die „Bild“-Zeitung.
Seit seinem Raketenstart beim FCH gilt Paul Wanner als größtes deutsches Fußballtalent nach Musiala und Florian Wirtz. Vier Spiele, vier Tore, zwei Assists; jüngster Elfmetertorschütze der Liga – und dazu ein besonnener, bodenständiger Typ aus geerdetem Hause.
Einziges „Manko“: Wanner ist in Dornbirn geboren. Ösi-Trainer Rangnick will ihn unbedingt und lockte im Sommer sogar mit der EM. Jetzt ist Nagelsmann gefragt – eine rasche Nominierung.
„Dass er mit 18 solche Sachen macht, haben wir auch nicht gewusst“, sagt Wanners neuer Vereinschef Holger Sanwald. Der sieht aus seinen verwunderten Augen kam mehr hinaus. In 29 Jahren hat er es vom ehrenamtlichen Abteilungsleiter zum Vorstandsvorsitzenden gebracht. Oder anders gesagt: Früher fuhr er zur Staffeltagung nach Burgberg, jetzt war Monaco angesagt: zur Auslosung der Conference League. Und wenn’s mal läuft, dann richtig: Seit Sonntag führt der FCH-Boss auch die Darts-Tabelle bei „Sport im Dritten“ an.
Vor 20 Jahren spielte Heidenheim noch in der gleichen Liga wie jetzt der SC Durbachtal. „Treppe statt Aufzug“, lautet das Lebensmotto von Sanwald. Julian Nagelsmann dagegen schnellte die Karriereleiter mit dem Düsenflieger empor. Den schmerzhaften Absturz beim FC Bayern inklusive. Deshalb wäre er froh, wenn er beim DFB annähernd die Rückendeckung hätte, die Sanwald seinem Langzeittrainer garantiert.
Was Frank Schmidt sagt, ist in Heidenheim Grundgesetz. Zur aktuellen Ausnahmesituation meint er: „Wir fangen doch jetzt nicht an durchzudrehen.“ Die sechs Punkte und 6:0 Tore, mit denen sein Team den deutschen Fußball anführt, sind in seinen Augen 15 Prozent des Klassenerhalts.
Vor acht Wochen, als die Vorbereitung auf die Saison begann und er selbst noch an Krücken ging, sagte Frank Schmidt: „Man muss mit allem rechnen – auch mit dem Guten.“ Julian Nagelsmann dürfte das ähnlich sehen.