Bo Henriksen ist der verrückteste Vogel unter den Bundesliga-Trainern. Der Retter des FSV Mainz hat das Ritual eingeführt, eine Stunde vor Spielbeginn die Fans mit wilden, fast schon bescheuerten Gesten der Begeisterung anzuzünden. Nach Lauterbachs Lockerungen fragt sich mancher: Hat der Däne was geraucht? Spaß beiseite: Mit dieser hineingetragenen Euphorie hat er den Klassenerhalt geschafft.
Wir Deutschen sind die Großmeister des Gegenteils. Deshalb setzen wir auf Turniere gerne einen Stimmungskiller an. Der DFB neigt dabei zu Eigentoren.
Als kurz vor der Russland-WM 2018 ein Foto auftauchte, das unsere Nationalspieler Özil und Gündogan mit dem im Wahlkampf befindlichen türkischen Autokraten Erdogan zeigte, bügelte DFB-Direktor Bierhoff zunächst mit der Arroganz des Titelverteidigers kritische Fragen von ARD-Reporter Bommes ab.
Doch nicht nur dem Verband fiel dieses Foto vehement auf die Füße. Die Konzentration in der Mannschaft war dahin, der Weltmeister scheiterte kläglich in der Vorrunde. Später brach zuerst Deutschland mit Özil und dann Özil mit Deutschland.
Eine traurige Geschichte.
Die sich vier Jahre später auf andere Weise wiederholte. Katar trampelte auf den Menschenrechten herum und bekam trotzdem die WM – höchstwahrscheinlich durch Korruption. Die Politik schwieg, und plötzlich sollte eine One-Love-Binde am Arm von Kapitän Manuel Neuer gegen alles protestieren. Der Weltverband Fifa drohte, der DFB knickte ein, und die Spieler waren die Deppen.
„Plötzlich sollten sie klären, was Funktionäre und Politik verbockt hatten“, sagt SPD-Chef Klingbeil heute.
Der Rest ist bekannt: Die Nationalelf ließ sich mit der Hand vor dem Mund fotografieren und versagte ein zweites Mal in der Vorrunde.
Dieses Damoklesschwert schwebt auch über dem Team von Julian Nagelsmann, das am Freitag die Heim-EM eröffnet. Nachdem der Bundestrainer alle Register gezogen und prominente Gesichter ausgemustert hat, um Aufbruchstimmung zu erzeugen, tauchte eine Umfrage der ARD auf, wonach sich 21 Prozent der Deutschen mehr weiße Nationalspieler wünschen.
Hintergrund ist eine Doku von Philipp Awounou unter dem Titel „Einigkeit und Recht und Vielfalt“. Auf der Suche nach dieser Vielfalt befragte der dunkelhäutige Sportjournalist verschiedene Menschen nach ihrer Sicht auf die Nationalelf.
Dabei kam es zu gegensätzlichen Aussagen. Selbst am gleichen Ort. Im thüringischen Blankenhain, wo das erste EM-Trainingslager stattfand, fragte ein Mann auf dem Parkplatz eines Supermarktes: „Wo bleiben die hellhäutigen Deutschen?“ Ein Spieler des örtlichen Vereins sagte das Gegenteil: „Bei uns ist jeder willkommen.“
So ist das in diesem Land. Die ARD hat ein heißes Eisen angefasst, es näher betrachtet und sich dabei die Finger verbrannt. So eine Umfrage hätte auch von der AfD in Auftrag gegeben werden können. Im Gegensatz zu den Öffentlich-Rechtlichen, die über das Ergebnis erschraken, hätte der braune Rand gejubelt.
Und die Moral von der Geschicht’? Sechs Jahre nach dem Erdogan-Foto ist Gündogan Kapitän. „Im Fußball“, sagt Fredi Bobic, „waren wir immer schon weiter als die Gesellschaft. Wir haben uns nie über Hautfarbe definiert.“
Taugt diese EM, wie viele hoffen, tatsächlich als Energieladekabel für eine gespaltene Gesellschaft mit all ihren Problemen? Vorsicht, Funkenschlag!
Geht’s raus und spielt’s Fußball“, pflegte Franz Beckenbauer zu sagen. Das wäre Nagelsmann das allerliebste.