Die 3D-Brille des Fußballs

Ganz ehrlich: In puncto Verwirrung kann die Handspielregel im Fußball samt ihrer Auslegung längst mit dem Sprichwort mithalten: „Hier stehn wir Fische, sagt der Stichling zur Schnecke.“ Und der zum Zwecke der Klarheit erfundene VAR ist mindestens so unberechenbar wie die Tagesform der Bayern in dieser Saison.

Beim Versuch, mit diesen Imponderabilien des Fußballs umzugehen, hat sich in den zahllosen Talk- und Babbelrunden ein völlig neues Kriterium herausgeschält: die Betrachtung im Sinne des Fußballs. Dabei handelt es sich quasi um eine moralische 3D-Brille.

TV-Experte Matthias Sammer gilt als Dozent, Guru oder Flüsterer des Fußballs – ganz wie Sie wollen. Dieser Sammer sagt allen Ernstes: „Im Sinne des Fußballs bin ich froh, dass es keinen Elfmeter gegeben hat.“ Damit meinte er die Szene in London, als der Schiedsrichter nach vollzogenen Auswechslungen das Spiel anpfiff, und Arsenal-Keeper Reya am Fünfmeterraum den Ball zu seinem Verteidiger passte, der ihn mit der Hand stoppte, um selbst den Abstoß auszuführen.

„Das war der klarste Hand­elfmeter, den ich je gesehen habe“, sagte Bayern-Torjäger Harry Kane.

Während die Münchner vom Glauben abfielen, erklärte ihnen Schiedsrichter Nyborg, dass er wegen so einem „Kidsmistake“, was so viel wie Anfängerfehler heißen sollte, in einem Viertelfinale der Champions League doch keinen Elfmeter pfeife.

War das Diplomatie auf höchstem Niveau? Und wäre ein Strafstoß wirklich Korinthenkackerei gewesen?

Sammer versammelte mit seiner Sicht zumindest den DFB-Regelexperten Lutz Wagner hinter sich: „Der Schiedsrichter hat im Sinne des Spiels eine praktikable Lösung gewählt.“ ZDF-Moderator Jochen Breyer schlug in die gleiche Kerbe: "Die Fußballseele sagt, so eine Szene darf ein Viertelfinale nicht entscheiden.“

Aber was ist im Sinne des Fußballs – und wer entscheidet das am Ende? Ein Sportgericht, ein Schöffengericht, ein Narrengericht – oder das Bundesverfassungsgericht?

Im Fall „Arsenal“ musste es gar nicht so weit kommen. Sagt zumindest Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe. „Nach Abstoß Hand bedeutet Elfer. Das ist keine Frage der Auslegung, sondern eine regeltechnische“, legte sich der ZDF-Experte fest. Sein Schweizer Kollege, der ehemalige Kultschiedsrichter Urs Meier wurde genauso deutlich: „Wir sind in der Champions League, nicht beim Kinderfußball.“

Die Bayern hätten kotzen können, taten es aber nicht, weil sie wussten, dass sie nach der Blamage kurz zuvor in Heidenheim den Ball flacher als jede Grasnarbe halten mussten. Und das 2:2 beim Tabellenführer der Premier League war plötzlich mehr, als sie sich womöglich selbst zugetraut hatten.

Denn in der Bundesliga spielt der Abomeister nur noch die zweite Geige. Kaum hörbar angesichts der Brillanz, die der neue Champion Bayer Leverkusen versprüht.
Bayer statt Bayern auf dem Thron – ist das im Sinne des Fußballs? Was sagt der Sammer-TÜV?

Für die längst erlahmte Spannung ist der Machtwechsel ein Vitaminstoß. Die Ultras unter den Fans reiten zwar auf der 50+1-Regel rum: alle Entscheidungsgewalt dem Stammverein. Die vom Bayer-Konzern finanzierten Leverkusener haben eine Ausnahmegenehmigung, wie Hoffenheim (Hopp) und Wolfsburg (VW). Zur Begründung wurden die mäßigen Erfolge des Trios herangezogen.

Doch jetzt ist Schluss mit Vizekusen. Davor verneigt sich Deutschland. Vereinsbrille hin, 3D-Brille her.

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